Dies ist eine Rezension der Dissertation von Anton Freytag S.V.D. mit dem Titel Historisch-kritische Untersuchung über den Vorkämpfer der indianischen Freiheit Don Fray Bartolomé de las Casas bis zu seinem Eintritt in den Dominikanerorden.
P. Freytag hat sich für den großen Vorkämpfer der Indianer erwärmt und zeichnet dessen Leben und Wirken bis zu dem Augenblick, da las Casas, bereits ca. 50 Jahre alt, in den Dominikanerorden eintrat (1474 bis 1523). Schon diese Tatsache, dass, man kann wohl sagen, die Hauptagitation des berühmten Mannes in die Zeit vor seiner Zugehörigkeit zum Orden fällt, wird manchem überraschend kommen. Der Verfasser hat sich sehr fleißig in die reiche Literatur und vorab in die Schriften las Casas‘ selbst hineingelesen und kann das Verdienst sich zusprechen, mehrere ungenaue oder irrige Daten, wie sie immer noch in den landläufigen Darstellungen selbst in kirchengeschichtlichen Lehr- und Handbüchern stehen geblieben sind, richtiggestellt zu haben. Allem Anschein nach ist die Schrift als Baustein zu einem neuen Lebensbild des berühmt gewordenen Mannes gedacht. Vielleicht dürfen wir uns mit Rücksicht darauf einige Bemerkungen und Wünschen erlauben.
Mehr wie eine geschichtliche Gestalt hat in der Freilichtmalerei der modernen Kritik stark von ihrem Zauber verloren. Wir glauben, dieses Schicksal wird auch las Casas teilen. „Er (las Casas) war“, so urteilt u. a. der amerikanische Historiker A. T. Vandelier, „ein wohlmeinender, aber durch und durch unpraktischer Enthusiast, der weder die Indianer verstand noch die neugeschaffene Lage würdigte, die sich für dieselben durch die Entdeckung Amerikas ergab, und der alles und jeden von dem Augenblick ab verurteilte, wo sie mit seinen Anschauungen und Plänen nicht übereinstimmten. Die Angaben über die Massenmorde der Spanier verdienen keinen Glauben, am wenigsten jene, die sich auf das Zeugnis des Bischofs von Chiapas, Bartolomé de las Casas, stützten. Die ganze Literatur seiner Periode muss überhaupt mit derselben Zurückhaltung gelesen werden, mit der wir heute die Auslassungen unserer politischen Kampfpresse hinnehmen.“ Diese Worte enthalten viel Wahrheit. Jedenfalls aber darf eine Darstellung und Würdigung von las Casas‘ Leben und Wirken nicht ganz oder hauptsächlich auf dem Selbstzeugnis eines Mannes aufgebaut werden, bei dem nicht ruhige Objektivität, sondern glühende Leidenschaft die Feder führte. Die ungeheuerlichen, „phantastischen“ Übertreibungen in seinen Zahlenangaben u. ä. sind von Gelehrten wie Humboldt, Peschel, Ratzel, Supan u. a. längst aufgedeckt worden. Kein ernster Historiker, bemerkt der Franziskaner P. Anselm Weber in einer Besprechung des stark eulogistischen Lebensbildes The Life of B. de las Casas by Rev. L. B. Dutto (St. Louis 1902), mit vollem Recht, wird die leidenschaftlichen Auslassungen eines Cola di Rienzi oder Savonarola ohne weiteres als zutreffendes Bild der kirchlichen Verhältnisse im 14. und 15. Jahrhundert gelten lassen. Ihr übermäßiger Reformeifer lässt sie alles grau in grau malen, um ihre Bestrebungen und Anschauungen als einzige Rettung erscheinen zu lassen. Ganz dasselbe trifft auf Las Casas zu (vgl. Amer. Eccl. Review 1902, 590 f.). „Wer den Stoff zu einer Geschichte der nordamerikanischen Negerfrage“, so urteilt zur selben Sache der amerikanische Historiker Edward Gaylord Bourne, „ganz oder hauptsächlich aus den Spalten eines Liberator (oder ähnlicher Parteiorgane) schöpfen wollte, würde ein sehr einseitiges Bild entwerfen.“
Das wirkliche Verdienst las Casas braucht nicht verkleinert, muss aber genauer umschrieben werden. Es besteht unseres Erachtens hauptsächlich darin, dass er gewissen auch in kirchlichen Kreisen stark eingebürgerten Anschauungen über das Recht der Eroberung entgegentrat, die Leute zum Denken brachte und eine neue milde Gesetzgebung zugunsten der unterdrückten Rasse in die Wege leitete. Ganz verkehrt aber ist es, wie der genannte P. Anselm Weber O.F.M. mit Recht betont, das ganze Verdienst im Kampf um die Freiheit der Indianer auf las Casas zu konzentrieren, denn wie am Verschwinden der roten Rasse an manchen Punkten der spanischen Conquista außer der spanischen Härte eine Reihe anderer unverschuldeter Ursachen mitwirkten, die las Casas geflissentlich übersieht, so haben auch um ihre Erhaltung andere Männer, vielleicht mit mehr Erfolg, sich bemüht. Und wenn las Casas zum Teil hochangesehene Männer, einzig weil sie auf seine Ideen nicht eingehen, als Schurken hinstellt und ihnen die niedrigsten Beweggründe unterschiebt, so sind dieselben damit noch lange nicht gerichtet. Was wir wünschen, ist ein objektives Geschichtsbild, und es soll uns freuen, wenn P. Freytag ein solches zeichnen will.
(Aus: die katholischen Missionen, 1916)