Der Gebrauch, den neubekehrten Heidenchristen die Geheimnisse unserer heiligen Religion auf dem Weg dramatischer Vorstellungen anschaulich zu machen und packend nahe zu bringen, war beispielsweise in den alten Jesuitenmissionen sehr verbreitet. Diese Mysterienspiele haben sich in Südindien zum Teil bis heute erhalten. Auf Ceylon fanden sich, wie der kalvinische Prediger Barzäus in seiner „Wahrhaftigen und ausführlichen Beschreibung der Insel Ceylon“ (Amsterdam 1676) bemerkt, „meist bei allen Kirchen Theater oder Schaubuden, wo von den portugiesischen Jesuitenpatres an heiligen Tagen geistliche Historien dem (Volk) fürstellig gemacht wurden.“ (siehe hier undhier) Diese schöne Sitte ist heute u.a. in der blühenden Indianermission der Patres Oblaten am Fraser-Fluss (British Columbia) in einer sehr originellen Fassung wieder aufgelebt.
Hier werden nämlich in der Kamloop-Mission alljährlich Volksexerzitien für die Indianer des Flusstales abgehalten, zu welchen diese zahlreich von weit und breit sich einfinden. Den feierlichen Schluss dieser Geisteserneuerung bildet jedes Mal eine dramatische Vorführung der Leidensgeschichte unseres Herrn in lebenden Bildern. Die Rollen werden an eine auserwählte Schar von Indianer und Indianerinnen verteilt und sorgfältig eingeübt. Ein Chor unterstützt durch entsprechende Gesänge die Wirkung der in schlichter Einfalt dargestellten Szenen.
Von allen Seiten strömen die Zuschauer herbei, Indianer und Weiße, Protestanten und Katholiken, und die Kamloop-Mission ist für das Frasergebiet im Kleinen, was Oberammergau für die katholische Welt im Großen.
Das Ganze wird in den Rahmen einer feierlichen Prozession eingefügt. Glockengeläute eröffnet die Feier. Die Prozession ordnet sich. An der Spitze gehen die Frauen, diesen folgen die Mädchen, dann die Knaben und Jünglinge, zuletzt die Männer; die Angehörigen der verschiedenen Stämme jedes Mal in Gruppen zusammen. Die beiden Reihen schreiten, durch einen weiten Zwischenraum getrennt, langsam voran. Jede Gruppe beginnt in ihrer Sprache das volkstümliche Passionslied zu singen:
Dem Blut, das unser Heiland will vergießen,
Weiht euren Schmerz, lasst eure Tränen fließen.
Trotz der Verschiedenheit der Sprache klingt das Ganze harmonisch zusammen und macht zumal aus größerer Ferne einen tief ergreifenden Eindruck. Das Lied führt, wie es die Aufgabe der griechischen Chöre war, die Herzen in die Stimmung ein, die dem dramatischen Vorgang entspricht. In langer schlängelnder Linie zieht die Prozession langsam den Darstellungshügel hinan. Wehende Fahnen, grüne Kränze und Blumengewinde zieren den Weg; aus dem nahen Wald ertönt der Gesang der Vögel. Währenddessen bilden die kostümierten Spieler weiter oben, wo die breite Straße der Hügelflanke entlang führt, acht je 15-20 m voneinander entfernte Gruppen und stellen in lebenden Bildern folgende Szenen vor Augen:
1. Jesus am Ölberg
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3. Jesus vor Pilatus |
4. die Geißelung
5. die Dornenkrönung
6. die Begegnung der Mutter Jesu |
7. den Fall unter dem Kreuz und |
8. die Begegnung der heiligen Frauen |
Diese Leidensbilder werden hier von Indianern für Indianer dargestellt. Das darf man nicht vergessen. Der feine Kulturmensch könnte an der drastischen Art, wie einige der heiligen Szenen diesen Kindern der Wildnis zu Gemüt geführt werden, vielleicht Anstoß nehmen.
Der Indianer aber hat kräftigere Nerven und einen unverdorbenen Natursinn, der jede Abschwächung als Mangel empfände. Er will das schreckliche Leiden des Herrn in seiner vollen Wirklichkeit mitempfinden und durcherleben. So steht denn z.B. bei der Geißelung der Herr bis an die Lenden entblößt in gekrümmter Stellung an einer niederen Säule.
Die photographische Wiedergabe gibt die Wirklichkeit nur sehr unvollkommen wieder. Die ganze Umrahmung, der tiefe Ernst der Spieler, die sich lebendig in ihre Rolle hineindenken, verleiht dem Ganzen trotz der einfachsten Mittel eine mächtige Wirkung.
Auf der Spitze des Hügels ragt ein riesiges Kruzifix, an welchem in Lebensgröße ein in blasser Leichenfarbe bemalter Christus hängt. An diesem Kreuz wiederholt sich bildlich die letzte Szene auf Kalvaria. Eine Indianerin kniet unten am Kreuz und küsst, dasselbe mit ihren Armen umschlingend, die Füße des Gekreuzigten. Aus allen Wunden beginnt das Blut reichlich hervorzuquellen und auf das Haar und das weiße Gewand der Magdalena herabzutropfen. Zu beiden Seiten des Kreuzes stehen Maria und Johannes, dahinter und in der Runde die Juden und Soldaten mit Lanzen und Schwertern.
Der Gesang verstummt. Das ganze Volk, im weiten Kreis auf dem Hügelplateau versammelt, fällt auf die Knie nieder und betet leise. Ein Soldat tritt vor und reicht an langer Stange einen Schwamm mit Essig empor. Ein Gefühl der Ergriffenheit zittert durch die Menge. Tief gesammelt verharrt sie im Gebet, das erst leise, allmählich anschwellend in lautes Murmeln übergeht.
Nun erheben sich die Häuptlinge der verschiedenen Stämme und rufen, ein jeder in seiner Sprache: „Christus ist gestorben“. Ein Schluchzen und Weinen aus der Menge tönt als Antwort; von manchem Frauenantlitz sieht man die hellen Tränen niederrollen. Ein feierlicher Gesang in psalmenähnlicher Melodie und ein Gebet bilden den Schluss. Dann löst sich die Menge auf und geht schweigend auseinander.
Am Abend bildet das Lager der sieben Stämme einen malerischen Anblick. Hunderte von Feuern flammen vor den Zelten und werfen ihr flackerndes Licht auf die Frauen, Männer und Kinder, die rauchend, spielend und plaudernd um das Feuer herumsitzen. Dazwischen tönt das Schreien der Papuse (Säuglinge) und das Bellen der Hunde. Allmählich erlischt ein Feuer nach dem anderen, und über Kamloop herrscht die stille, dunkle Nacht.
(Aus: die katholischen Missionen, 1905)